24. Mai 2011

Ludwig XVI. an Leopold II.

Juli 1791
Jedermann in Europa kennt die Liebe des Königs zu seinen Völkern und die großmütige Art seines Verhaltens, bei der Einberufung, der Generalstände und bei allen Gelegenheiten seit der Eröffnung dieser Versammlung. Die Güte und Hochherzigkeit des Königs sind mit Beleidigungen sonder Zahl gegen ihn und seine Familie und mit der Gefangenschaft, in der man ihn seit fast zwei Jahren hält, vergolten worden. Der König hatte sich in alle persönlichen Opfer, die man von ihm forderte, gefügt und bereit gefunden, alle Leiden des Zustandes, in dem er gehalten wurde, zu ertragen, weil er hoffte, daß aus den Arbeiten der Repräsentanten der Nation das Glück des Königreiches entstehen und er für sein Leiden durch das Allgemeinwohl getröstet würde. Da er aber jetzt, wo die Nationalversammlung zu Ende geht, sieht, daß jede Art von Regierung zerstört ist, daß sich die Klubs jeder Autorität sogar über die Versammlung hinweg bemächtigt haben, daß keine Hoffnung mehr besteht, daß sie die von ihr begangenen Fehler korrigieren könne und auch nicht die neue gesetzgebende Versammlung, wenn in ihr ebenfalls der Klubgeist vorherrscht, reicht der Rest eines Scheins von Autorität, der dem König bleibt, nicht hin, das Wohl zu fördern und das Übel hintanzuhalten. Nach diesen Überlegungen hat der König den Entschluß gefaßt, eine letzte Anstrengung zu machen, um seine Freiheit zurückzugewinnen und sich den Franzosen anzuschließen, die wirklich das Wohl ihres Vaterlandes wünschen; aber die Umtriebe der Aufrührer haben seinen Plan zum Scheitern gebracht; er ist nochmals verhaftet und wird Gefangener in Paris bleiben. Der König hat beschloßen Europa den Zustand, in dem er sich befindet bekanntzumachen; und indem er seinen Kummer dem Kaiser, seinem Schwager, anvertraut, zweifelt er nicht daran, daß er alle Maßnahmen ergreift, die ihm sein großmütiges Herz gebieten wird, um dem König und dem Königreich von Frankreich zu Hilfe zu kommen.

Ganz eigenhändig geschriebenes Original im Wiener Staatsarchiv, Karton 26, Hausarchiv. Mit einem Vermerk von Mercy: „Originalschreiben des Königs von Frankreich“

10. Mai 2011

Estienne Jodelle

Sonett
Comme un qui s’est perdu dans la forest profunde
Loin de chemin, d’oree, et d’adresse, et de gens:
Comme un qui en la mer grosse d’horribles vens,
Se voit presque engloutir des grans vagues de l’onde.

Comme un qui erre aux champs, lorsque la nuit au monde
Ravit toute clarté, j’avois perdu long temps
Voye, route, et lumiere, et presque avec le sens,
Perdu long temps l’object, où plus mon heur se fonde.

Mais quand on voit, ayans ces maux finy leur tour,
Aux bois, en mer, aux champs, le bout, le port, le jour,
Ce bien present plus grand que son mal on vient croire.

Moy donc qui ay tout tel en vostre absence esté,
J’oublie en revoyant vostre heureuse clarté,
Forest, tourmente, et nuict, longue, orageuse, et noire.

Sonett
Wie einer, der im tiefen Walde sich verirrt,
Weitab vom Pfad, nicht Ausweg kennt und Richtung mehr,
Wie einer, dem auf stürmisch hoch gewelltem Meer
Von großen Wogen schon ein Grab bereitet wird,

Wie einer, der durchs Feld irrt, wenn den Tagglanz fort
Die Nacht der Erde nimmt, so hatt` auch ich langhin
Verloren Weg, Bahn, Licht und beinah mit dem Sinn
Langhin verloren meines größten Glückes Hort.

Doch sieht man dann, sobald der Unheilsbann zerbricht,
In Wäldern, Feldern, Mer, das Ziel, den Ort, das Licht,
Wird dies zum größer`n Gut als Not, die jüngst entflohn:

Auch ich, dem, fern von dir, solch Schiksal war verhängt,
Vergeß im Wiedersehn, von deinem Licht beschenkt,
Wald, Qual und lange Nacht mit Sturm und düsterem Drohn.

für Eva 

Estienne Jodelle, Seigneur de Lymondin
Jodell geb. 1532 in Paris, gest. 1573 ebendort, war Organisator der Feste am französischen Königshof. Er stand der Pléiade nahe und schrieb lyrische Gedichte seit seiner frühen Jugend. Seine Tragödie „Cléopatre captive“ ist die erste nicht aus alten Sprachen übersetzte, sondern selbstständige französische Tragödie nach antiker Art. Jedelle gilt als Schöpfer der klassizistischen französischen Dramas, das mit den Werken Pierre Corneilles und Jean Racines seinen künstlerischen Höhepunkt erreicht.
Text nach: Les Amours et autres póesies d`Estienne Jodell, sieur du Lymodin hrg. Von Ad. van Bever, 1907