5. April 2010

Marie Antoinette schreibt Marie Christine

Im Jahre 1777 schrieb Marie Antoinette ihrer Schwester, der Erzherzogin Marie Christine anlässlich des Besuch von Bruder Joseph in Frankreich.
Interessant ist die Erwähnung der Aufführung von Christoph Willibald Gluck, Iphigenie en Aulide, die im Jahre 1774 in Paris uraufgeführt wurde.
Das Verhältnis zwischen den beiden Regenten Joseph II. und Louis XVI. ist zeitweilig als angespannt zu sehen.
Der Reformkaiser fand in Ludwig keinen ebenbürtigen Partner. Veränderungen oder Einmischung in innerfranzösische Angelegenheiten waren dem jungen König zuwider.

An die Erzherzogin Marie Christine
Liebe Marie!
Wie ich Dir bereits geschrieben habe, hat der Kaiser es sich in den Kopf gesetzt, nicht im Schloss abzusteigen. Er wohnt in einem Gasthof, speist aber mit uns zu Abend. Vor kurzem habe ich ihn in die Oper zu einer Aufführung der Iphigenie en Aulide geführt, dort hat er sich sogleich in einen Winkel unserer Loge zurückgezogen, aber nach der letzten großen Arie faßte ich ihn gewaltsam am Arme und nötigte ihn so, sich sehen zu lassen. Das Publikum klatschte und er verließ das Haus ganz entzückt von der Aufnahme, die man ihm und unserem guten Gluck bereitet hatte. Josef bleibt immer der Alte, err macht über alles recht treffende Bemerkungen und weiß zu raten wie keiner außer ihm. Mitunter – das muß man zugestehen – wählt er allerdings eine so heftige Form für seine wirklich bedeutenden Gedanken, daß er sie dadurch um ihre ganz Wirkung bringt. Die liebe Mamá wird mir eine solche Sprache nicht übel nehmen; sie kennt uns beide am besten auf der Welt und weiß, wie sehr ich den Kaiser bewundere und sehr ich bemüht bin, ihm bei Hofe zu dem so wohlverdienten günstigen Eindruck zu verhelfen. Der König ist ihm in Freundschaft zugetan und hört ihn, da er selbst schüchtern und einsilbig ist, gerne stillschweigend an; nur wenn unser Bruder einen seiner kritischen Ausfälle gegen ihn macht, lächelt er leicht, ohne ihm zu widersprechen. Kürzlich ist er allerdings aus seiner Rolle gefallen, als der Kaiser einige Verwaltungsgrundsätze mit einer Spitze gegen den Klerus richtete. Der König hat alles von Josef Vorgebrachte einzeln mit einer solchen Schärfe und kaltblütigen Sicherheit zu entkräften gewußt, daß eine weitere Unterhaltung über diesen Gegenstand ganz unmöglich ist. Zum Schluß bemerkte er: Jedes Land hat seine eigenen Gewohnheiten und Bedürfnisse. Vielleicht lassen sich ihre Grundsätze anderswo anwenden, obzwar ich auch das bezweifeln möchte, doch sind wir in Frankreich; auf unserem Boden seinen die staatlichen Einrichtungen fremder Herkunft nicht vorwärts zu kommen.

Marie Antoinette