26. September 2007

Der Sturm auf die Tuilerien



Aus dem Blickwinkel der "Guardia Svizzera", die treu zu Louis den XVI. und Marie Antoinette standen.
Mit freundlicher Genehmigung des folgenden Textes von Rich Geisser.




Mit dem wahren Gesicht der Revolution machten die Schweizer schon am 14. Juli 1789 beim Sturm auf die Bastille Bekanntschaft. Niemand hatte dieses Ereignis vorausgesehen und der Kommandant hatte keine Order für den Ernstfall. Die Bastille war verteidigt von 31 Schweizern und etwa 70 Veteranen, die dort mehr oder minder in einem militärischen Ausgedinge lebten. Als von einer aufgeputschten Meute, die gewiss nicht das französische Volk repräsentierte, der Angriff begann, verlor der Kommandant ohne Order den Kopf und übergab die Festung mehr oder minder kampflos den Aufständischen, die ihn alsbald massakrierten und den grössten Teil der 31 Schweizer und Invaliden die Mauer hinunterstürzte. Die vier Gefangegen (hievon drei kriminelle und ein politischer) die dort waren, wurden befreit. Das ist der große Tag des Revolutionsbeginnes, der bis heute Nationalfeiertag ist. Ich will den symbolhaften Charakter des Niederreissens der Bastille nicht unterschätzen. Aber die Ereignisse an sich sollte man eigentlich nicht glorifizieren. Die allmählich allmächtig gewordene Assemblee Generale witterte in den Schweizer Regimentern den Feind der Revolution und schickte immer mehr von ihnen auf Urlaub nach Hause, liess sie ihre Artillerie und Munition an französische Regimenter abtreten und verlegte sie in Garnisonen, die von Paris möglichst weit entfernt waren. Die Schweizer appellierten an den König, doch der war zu schwach, um sein Veto einzulegen. 1790 kam es in Nancy zu einem schweren Zwischenfall. Ein hauptsächlich aus Waadtländern zusammengesetztes Regiment, das mit umstürzlerischen Ideen kokettierte - nicht ohne Grund, denn der Kanton Bern behandelte das Waadtland wie ein unterjochtes Gebiet - hatte - mit den Aufständischen gemeinsame Sache gemacht. Man brachte die Sache vor das schweizerische Gericht. Das Urteil lautete, dass einer der Haupträdelsführer auf das Rad geflochten werde, 22 gehenkt und 41 auf die Galeeren geschickt werden sollten, und dieses Schweizer Urteil wurde wirklich ausgeführt. Inmitten dieser sich auflösenden Ordnung blieben die Schweizer wirklich ein Fall der Disziplin. Auf der anderen Seite ging die französische Garde, die eigentlich den König schützen sollte, zum allergrössten Teil ins Lager der Revolution über. Es sind fast nur mehr die Schweizer, die zur königlichen Familie halten. Auch diesen letzten Schutz will man der königlichen Familie entziehen und beschliesst ein Gesetz, dass die Schweizer mindestens 50 Meilen von Paris entfernt kaserniert werden müssten. Die Schweizer wollen das nicht anerkennen, da dies im Gegensatz zu den Capitulationen stand, die sie mit dem Schutz des Königs betrauten. Und es klingt schon wie ein Anachronismus, wenn am 16. Mai 1792 eine Bittschrift Ludwig XVI. übergeben wird, worin in "respekt- vollem Vertrauen auf die Güte nd Gerechtigkeit Eurer Majestät das Regiment die besondere Ehre verlangt, in diesen bewegten Zeiten das Privileg zu erhalten, den Schutz Eurer Person und der königlichen Familie fortsetzen zu dürfen." Die totale Machtlosigkeit der französischen Soldaten zeigt sich schrecklich am 20. Juni, wo die übelste Hefe des Volkes die Tuilerien stürmt und vier Stunden lang unter ungeheuerlichsten Schimpforgien an der königlichen Familie vorbeizieht. Man setzt dem König spöttischschmerzend, wie man einst die Dornenkrone verwendete, die rote phrygische Mütze aufs Haupt. Er lässt es sich fast lächelnd gefallen, aber als einer behauptet, dass er vor Angst zitterte, da nimmt er die Hand des Erstbesten, legt sie an sein Herz und fragt ihn: "Klopft es schneller?" Und dieser Mann, ein kleiner Schneider, der aus Neugier und noch nicht gänzlich von den neuen Ideen vernebelt, mitgekommen war, erzählt nachher in der Bürgerrunde, dass er es gewesen sei, dessen Hand damals das Herz des Königs befühlt habe, und dass es wirklich nicht schneller geklopft habe als ein gewöhnliches. Das genügte, dass er vors Revolutions-Tribunal gebracht, zu Tode verurteilt und guillotiniert wurde. Der Tod des armen kleinen Schneiderleins hat mich persönlich immer mehr bedrückt als die Deklaration der Menschenrechte mich begeistern konnte. Liebe in Worten wird nie den Schrecken der Taten bedecken können. An diesem Tag war, wie durch ein Wunder, der König
noch gerettet worden. Aber seine Feinde liessen nicht locker. Die wütendesten Revolutionäre, die kein Blutvergiessen scheuten, waren die Leute aus Marseille. Anfang August trafen 500 von ihnen in Paris ein und erzeugten eine blutige Frenesie. Jeden Tag wurden Wachsoldaten um die Tuilerien ermordet. Die Insulte der königlichen Familie nahmen täglich zu. Im Rathaus gab es Freunde der sich ausbreitenden Anarchie und solche, die noch davor Angst hatten. Mandat, der Chef der Nationalgarde, der mit seinen unverlässlichen Soldaten die Tuilerien nicht mehr schützen konnte, sandte, mit Zustimmung des Bürgermeisters Petion, den Schweizern, die in den Kasernen von Rueil und Courbevoix stationiert waren, am 8. August den Befehl, in der Nacht einzurücken und den Schutz der Tuilerien zu übernehmen. Trotz all der Versuche, das Regiment zu schwächen, waren noch etwa 1000 Mann vorhanden, allerdings mit nur wenigen Kanonen und mit geringer Munition. Offiziere und Mannschaft sind sich offenbar des Schicksals voll bewusst, dem sie entgegengehen. Sechs der ehrwürdigen ruhmbedeckten Fahnen des Regimentes werden im Keller der Kaserne begraben, nur drei mitgenommen. Die katholischen Priester nehmen die Beichte ab; strengster Appell wird gehalten und nachgesehen, ob alles Lederzeug frisch geputzt und die Perücken sorgfältig gepudert sind. Sie marschieren durch menschenleere Strassen, nur hie und da hören sie den düsteren Schrei "Tod den Schweizern". Um 3 Uhr früh sind sie bei den Tuilerien. Sie besetzen die Schildwachen, die Fenster und die äusseren Räume des Palastes. Lamartine beschreibt dies dunkle Gemälde: "Die Schweizer lagerten hauptsächlich im Vestibül, ihre Fahne war dort. Sie sassen auf den Bänken oder auf den Stufen der Stiege, das Gewehr in der Hand, und verbrachten die Nacht in tiefer Stille. Die Kerzen der Luster spiegelten sich in ihren Waffen, der Lärm der Gewehre gegen den Marmor, das "Wer dort?" mit gedämpfter Stimme der Wachen gaben dem Palast den Aspekt eines Lagers vor dem Feind. Die roten Uniformen der Schweizer, sitzend auf den Stiegenabsätzen, lagernd auf den Stufen, auf dem Geländer, liessen die Prinzenstiege schon im voraus einem Sturzbach von Blut gleichen. Gleichgültig gegen jede politische Frage, als Republikaner gegen eine Republik kämpfend, haben diese Männer als Seele nur ihre Disziplin, als Überzeugung nur die Ehre. Sie schicken sich an zu sterben für ihr Wort, nicht für ihre Idee, nicht für ihr Vaterland. Aber die Treue ist eine Tugend an sich. Sie hatten nicht die Hingabe des Patrioten, sondern die des Soldaten."
Die Königin steht mit der jungen Prinzessin Elisabeth, der Schwester des Königs, am Balkon und beobachtet den immer lauteren Lärm in Paris. Um Mitternacht läutet die Sturmglocke. Es ist das allgemeine Zeichen. Überall rufen die Trommler zum allgemeinen Aufstand. Der König aber, mit dem Bild des unglücklichen englischen Monarchen Karl II. vor sich, seine Geschichte, die ihn in diesen Zeiten nicht mehr verliess, vor sich aufgeschlagen, ist ganz verstrickt in glaubenstiefem Gespräch mit seinem Beichtvater Abbe Herbert. Er hört nicht die grausigen Zeichen um sich. Alle Werte haben sich ihm schon gewandelt, und wenn auch vom Volk verlacht undgedemütigt, ist er doch von allen der Bestvorbereitete für das königliche Martyrium, das heute beginnen soll.
Das erste Morgenlicht macht eine unübersehbare Menschenmenge sichtbar. Die Quais bis zum Rathaus, der Platz Louis XV., jetzt Place de la Concorde, schwarz von Menschen bis hoch hinauf in die noch kaum verbauten Champs Elysees. Danton gibt den Generalplan aus, der von bezwingender Einfachheit ist: "Alles umbringen, insbesonders die Schweizer, sich der königlichen Familie bemächtigen, um sie als Geiseln zu verwenden." Ein wahrhaft modernes Programm: Danton als Patron der Geiselerpresser.
Das Schloss ist jetzt verteidigt von zirka 900 Schweizern, von ein paar Hundert treu gebliebenen Nationalgarden und etwa 200 Edelleuten, die sich während der Nacht hereingeschlichen hatten, um dem König die letzte Treue zu erweisen. Es war ein gespenstisch-bewegender Auszug aus dem französischen Gotha, von Laval-Montmorency angefangen über Rohan, Bissac, Harcourt, Larochefoucault, Latour bis Choiseul und Dampierre. Es war der letzte Dank für jahrhundertalten Königsschutz, es war die letzte noble Sühne für alles, was man vielleicht im Glanze nicht richtig gemacht hatte, es war das Nichterlebenwollen des nächsten grauen Tages ohne König, in leichter Don Quichotterie, aber überzeugend im unüberbietbaren Einsatz des Lebens. Sie waren schlecht bewaffnet und halfen nicht viel, aber sie waren gewiss der letzte Trost für den König und die Königin, und viel mehr wollten sie ja nicht.
Um 6 Uhr früh macht der König, seinen Sohn an der Hand, die Runde, aber er findet nicht die rechten Worte, um die Soldaten zu begeistern. Die Königin spricht nichts, aber ihre Erscheinung mit den Kindern an der Seite kann niemand ungerührt lassen, und sie zu verteidigen, muss der Urinstinkt jedes Mannes sein.
Der Tag beginnt mit einem schauderhaften Mord. Mandat, der Befehlshaber der Nationalgarde, wird ins Rathaus befohlen. Als er dort erscheint, verlangt man von ihm den Befehl an die Schweizer, nach Paris zu kommen, der vom Bürgermeister unterschrieben ist, was ihm in der gegenwärtigen Situation den Kopf kosten könnte. Ohne Böses zu ahnen gibt er ihn heraus, worauf er vor den Augen seines Sohnes als unbequemer Zeuge grausam niedergemacht wird.
Die führerlos gewordenen Nationalgarden in den Tuilerien gehen, nachdem auch die berittenen Garden, die bisher noch den Platz beim Louvre gehalten hatten, zu den Aufständischen übergegangen waren, ebenfalls über.
Im Schloss verhandelt der Minister Roederer mit der königlichen Familie: Der Abfall sei allgemein, der König exponiere nur unnötig seine Anhänger, seine Garden und seine Familie, wenn er im Schloss bleibe. Drüben, auf wenige Schritte Entfernung in der Assemblee Generale, die damals im ehemaligen Kloster der Feuillants etwa bei der Rue de Rivoli tagte, sei Sicherheit für den König und die Seinen. Die Königin hört, wie der Schweizer Hauptmann Bachmann dem Hauptmann Gebelin zuflüstert: "Wenn der König fortgeht, ist er verloren!" Sie wehrt sich gegen den Plan, sie vertraut der Truppe, und sie ist so gut in die Schule ihrer Mutter Maria Theresia gegangen, dass sie jedenfalls den Kopf hochhalten und zumindest die Ehre wahren will. Wie ihre Mutter ist sie erst Königin und dann erst Mutter. Aber der König, nicht mehr ganz von dieser Welt, träumt nur mehr davon, wie er Blutvergiessen vermeiden kann. So gibt er die Order zum Abmarsch.
Um halb neun formiert sich unter Hauptmann Erlach ein Zug von Schweizern und einigen Nationalgarden, die die königliche Familie in die Mitte nehmen, um sich den kurzen Weg zum Kloster der Feuillants zu erstreiten. Der Königin werden Uhr und Börse geklaut; auf den Stufen werden sie vom Kopf des armen Mandat empfangen, der auf einer Pike steckt. Die Schweizer Offiziere werden verhaftet, die Escorte entwaffnet, einige erschlagen, einigen gelingt es, sich wieder zum Schloss durchzuschlagen. Trotz der hundertfachen Übermacht traut man sich nicht, den Angriff zu beginnen. Erst um 10 Uhr ertönen die ersten Kanonenschüsse, aber die Schweizer machen einen Ausfall und erbeuten einige der Kanonen. Doch sie können mit ihren schwachen Kräften nicht das riesige Schloss halten mit seinen vier Höfen. Immer dringen die Aufständischen irgendwo ein.
20 Marseiller werden gefangen. Sie werfen sich den Schweizern zu Füssen und flehen um ihr Leben, was man ihnen schenkt. Die karge Munition geht langsam zu Ende, die äusseren Wachen werden überwältigt und grausam umgebracht. Immer mehr müssen sich die Schweizer zusammenschliessen.
Der König in der Assemblee Generale hört den Kampflärm. Einzig vom Gedanken besessen, Blutvergiessen zu vermeiden, kritzelt er auf einen Zettel: "Der König befiehlt den Schweizern, sofort die Waffen niederzulegen und sich in ihre Kasernen zurückzuziehen." Und fügt mündlich hinzu: "Er befindet sich im Schloss der Assemblee." Der Marschall Hervilly soll damit in die Tuilerien eilen. Hervilly liest das Billet nicht ordentlich und als ihm das Wunder gelingt, mit den Schweizern in
Verbindung zu treten, schreit er: "Befehl des Königs, in die Assemblee zu kommen." Sie glauben, sie werden zur Verteidigung des Königs gerufen. Wie zur Parade, heisst es in allen Memoiren, sammeln sie sich unter einem Hagel von Geschossen. Auf dem kurzen Weg werden 50 Männer getötet, aber stolz, mit enthüllter Fahne und gezogenem Säbel stürmt die mutige Schar in den Saal, wo die Assemblee tagt. Ein Entsetzensschrei: "Voilà les Suisses!" ertönt es von überall, und einige Deputierte der extremen Linken springen vor Angst aus dem Fenster. Die Hauptleute Salis und Dürler dringen bis zum König vor. Vielleicht die allerletzte Chance, die von Purcht gepackte Assemblee zum Teufel zu jagen und den Aufstand seines Kopfes zu berauben. Aber der König antwortet resigniert: "Übergebt Eure Waffen der Nationalgarde. Ich will nicht, dass Leute wie Ihr zugrunde gehen!" Aber gerade das ist das Todesurteil. Salis lässt die Gewehre zusammenstellen und die Patronentaschen ausleeren. Die Soldaten werden in die Kirche der Feuillants gebracht, die sie erst zur Hinrichtung wieder verlassen werden. Die Offiziere kommen ins Gefängnis der Abbaye, wo sie am 2. September von den Volksmassen, die die Gefängnisse stürmen, massakriert werden.
In den Tuilerien sind über 400 Schweizer zurückgeblieben, die zum Auszug in die Assemblee nicht zurechtgekommen waren. In ungezählten Heldentaten, fast ohne Munition, verteidigen sie das leere, brennende Schloss gegen ganz Paris bis gegen 4 Uhr. Als die Aufständischen endlich eindringen, finden sie nur mehr die beiden Trommlerbuben lebend vor, der eine 6, der andere 15 Jahre alt. Sie werden mit Bajonettstichen getötet.
Aus einem Fenster des Place du Carrousel, etwa dort, wo jetzt der kleine Triumphbogen im Tuileriengarten steht, sah ein junger Mann dem furchtbaren Geschehen zu. Als wäre die Erinnerung noch ganz frisch schrieb er darüber 25 Jahre später auf St. Helena: "Das königliche Schloss war von der unwürdigsten Canaille angegriffen worden. Nach seiner Einnahme und dem Auszug des Königs versuchte ich, in den Garten vorzudringen. Niemals hatte ich später auf einem Schlachtfeld eine solche Anhäufung von Toten erlebt. Ich sah Weiber, die die gemeinsten Obszönitäten an den Leichen verübten!"
Einigen, ja wohl über hundert, gelang es, in dem unbeschreiblichen Wirrwarr mit Hilfe barmherziger Franzosen zu entkommen. Oft aber nur, um einem noch ärgeren Schicksal entgegenzugehen. Selbst dem Kapitän Erlach war es gelungen unterzutauchen. Aber sein Versteck wurde verraten. Man zerrte ihn heraus und befahl der Ordonnanz, die mit ihm war, den Kapitän schön zu frisieren. Dann gab man dem Soldaten eine Säge in die Hand und befahl ihm, den Kopf des Kapitäns abzusägen, aber so vorsichtig, dass die Frisur nicht zerstört würde, da sie sich auf der Spitze einer Pike sehr gut ausnehmen würde. Der Soldat weigerte sich und wurde niedergemacht. Zwei Frauen übernahmen dann freiwillig die Sägearbeit und pflanzten den abgesägten Kopf auf eine Pike.
Aber es gab Militärärzte, die wochenlang Schweizer als angebliche Kranke in Spitälern versteckten, der Deputierte Bruat rettete 15 Schweizer Offiziere, indem er ihnen Zivilkleider verschaffte, mit denen sie fliehen konnten, und eine große Zahl riskierte das Leben, indem sie Verwundete versteckten. Und einige blieben sogar noch so lange in Paris versteckt, dass sie am 21. Jänner 1793 in ohnmächtiger Wut den dumpfen Trommeln lauschen mussten, mit denen Ludwig XVI. zum Schaffott begleitet wurde; und als Gipfel der Schmach und des Entsetzens am 16. Oktober 1793 der bleiernen Stille gegenwärtig wurden, durch die der Schinderkarren mit der einstigen Königin zum Richtplatz fuhr. Einige der Altdienenden werden sich noch daran erinnert haben, wie Marie-Antoinette im Mai 1770, noch nicht ganz 15 Jahre alt, in Compiegne von Ludwig XV. empfangen wurde, dem sie sich, wie es ihr ihre Mutter genau eingelernt hatte, zu Füssen warf, und der sie aufhob und diesen seidenraschelnden Schatz aus Jugend, Grazie und Frische als alter Kenner gar nicht mehr aus den Armen lassen wollte, während der Dauphin, ihr künftiger Mann, nur einen timid-kurz- sichtigen Blick für sie übrig hatte.
Und sie werden sich an die in aller Natürlichkeit so hoheitlichelegante Königin erinnern, die mit ihrem frischen Lebensdurst allen höfischen Zwang sprengte und so recht eine Königin war, in den Augeri des Gardisten, so wenig der König ein König war.
Und sie werden sich des Tages erinnern, wo all das Unheil begonnen hat, am 5. Mai 1789, wo die Garde die königliche Familie mit allem Pomp der Monarchie begleiten musste, vom Schloss Versailles zum Tagungsort der Generalstände, wo die Königin, mit 35 Jahren schon fast weiss geworden, von der Flut der Verleumdung, der Intrigen und des Hasses, die plötzlich, ohne dass sie etwas verbrochen hätte, über sie gekommen war, wiederum das Opfer eines der tragischen Missverständnisse war, die ihre späten Jahre so verbitterten: Man warf ihr zerstreut-verletzende Interesselosigkeit vor für das große Ereignis, das Zusammentreten der Generalstände, wovon sich ganz Frankreich den Beginn einer neuen glücklichen Epoche erhoffte. Aber was sind einer Mutter alle politischen Utopien, wenn der erstgeborene Sohn, zum Tode krank, in Kissen gebettet, auf dem Balkon liegt, um die Pracht des Zuges und die Mutter in der Staatsrobe zu sehen und ihr, vielleicht ein letztes Mal, zurückzuwinken.
Und später, wenn dem üerlebenden Gardisten die Zeichnung Davids von der Königin auf ihrer Fahrt zum Tode gezeigt wurde, da konnte er's nicht glauben, dass die schwergeprüfte Königin, die seinen Mut entflammt hatte, am Morgen des 10. August noch so viel Leid ertragen konnte, bis diese letzte Starre des Schmerzes erreicht war, wie auf dieser Zeichnung mit den trocken brennenden Augen, weil alle Tränen bis zur allerletzten ausgeweint waren. Und trösten wird ihn nur, dass stolz und aufrecht auch mit den nach hinten gefesselten Händen die Kaisertochter auf dem Schinderkarren fuhr und sie in grenzenloser Verachtung des Gemeinen die letzte hoheitliche Order an den Henker gibt: "Beeilen Sie sich!"
Heute, schon aus historisch kühler Ferne, blicken die brechenden Augen der ungebeugten Königin, der stolzen Tochter unseres Landes, auf uns zurück. Aber mir ist es stets, als sähen sie mich an durch allen bramarbasierenden Rauch und Schall, womit die französische Revolution das Geleistete anzupreisen und die Opfer zu vernebeln nicht müde wurde. Und war das von so vielen vielfach Gepriesene wirklich nur zu leisten, gepfropft auf die blutigen Körper des bestintentionierten Königs, der je auf Frankreichs Thron sass, eines Idealkönigs für eine wirklich demokratisch-freie konstitutionelle Monarchie, nur allzu gütig-schwach gegenüber den anarchischen Tendenzen, mit denen neue Ideen stets verbunden sind?
Und der überall nur Glück spenden wollenden Königin, die von einer überbeschäftigten Kaiserin nur sehr unvollkommen erzogen und auf ihr entsetzlich schweres Amt vorbereitet, höchstens der läss1ichsten Sünden jugendleichter Heiterkeit angeklagt werden kann, und dass sie nicht die schier übermenschliche Kraft besass, die tausend sie umgebenden interessierten Schmeichler abzuwehren und zu durchschauen? Und das Schneiderlein und die Schweizer und die lebensopfernden Edelleute und zirka 250.000 weitere, zum allerallergrössten Teil unschuldig hingerichtete Menschen, sollte das wirklich der Humus sein für die grossen menschheitsverändernden Ziele der Revolution? Oder zeigt sich im blassklaren Lichte ferner, den Leidenschaften des Tages entrückter und von neueren Erfahrungen geschärfter Geschichtsschau, dass die drei unverrückbar erscheinenden Ideale, für die diese ganze bittere Tragödie ablaufen musste: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, in der dargebotenen hohlrationalistischen Form nur eindrucksvoll wuchtende aber eigentlich blinde Fassaden sind, die täuschend vorgelagert sind dem echten Bau menschlicher Sehnsüchte, die ungleich komplizierter, tiefer und unaussprechlicher der behutsam sorgenden Aufdeckung harren und vielleicht nur einmal in der Weltgeschichte wirklich erahnt, entdeckt und zum gewaltigen Sturm echter Befreiung entfacht wurden, auch wenn wir es als rein historisches Faktum ansehen: in der Geburtsstunde des Christentums.
Der Zeremonie, die heute noch täglich viele tausend Male und um die ganze Welt dieser grossen Stunde der Menschheit gedenkt, glauben in unserer Zeit viele aus Mangel an Glauben an die sie umgebende Lehre oder weil sie sie überhaupt unbedingt an eine Lehre gekoppelt glauben, fernbleiben zu sollen oder zu müssen. Aber ich glaube, dass man sie auch empfinden darf, als stets erneuerte Erinnerung an den von so wunderbarer Wirkung begleiteten ersten liebend-zitternden Versuch, die ewig leidende Verbitterung des Menschen in einem Triumphzug der Demut in den tiefen Glanz und die reuelose Lust der Hingabe zu wandeln. Und langsam, wenn nun Blatt um Blatt der einst geräuschvollgepflanzten und nun schweigend verdorrenden Freiheitsbäume zur Erde sinkt, hören wir aus ängstlicher, um die wirkliche innere Freiheit bangender Stille wieder das Pochen all dieses damals mutwillig vergossenen Blutes.
Oh, lauschen wir! Es wird uns Richtigeres lehren, als die Fanfarenstösse der Sieger des 10. August 1793.
Nach dem 10. August wurden alle Schweizer Regimenter nach über 400Jahren höchster Bewährung von der Assemblee sangund danklos aufgelöst. In der Eidgenossenschaft war die Empörung, insbesonders nach Kenntnis der Septembermorde in den Gefängnissen, ungeheuer. Alle Truppen wurden sofort rückberufen.